Heiligenstadt: „Duale Ausbildung muss auch für Abiturienten attraktiver gemacht werden!“

Gut eine Stunde Zeit nahm sich Kultusministerin Frauke Heiligenstadt (SPD) für ein Interview zu Themen, die die Bauwirtschaft in Niedersachsen bewegen. In diesem Gespräch machte sie deutlich, dass sie die duale Berufsausbildung als „gleichwertige“ Alternative zum Studium sieht.

Kultusministerin Frauke Heiligenstadt

Sie betonte im Gespräch mit dem stellvertretenden Hauptgeschäftsführer des Baugewerbe-Verbandes Niedersachsen (BVN), Jan Loleit und dem externen Redakteur Carsten Seim die Bedeutung des Meistersystems für die Ausbildung im Handwerk. Die Politikerin macht sich zudem für mehr Berufsorientierung an den Gymnasien sowie in der Sekundarstufe II in Gesamtschulen stark.

Studium versus duale Ausbildung: Wie können Handwerksbetriebe im Wettbewerb um junge Leute punkten?

Wir müssen immer wieder deutlich machen, dass die berufliche Bildung gleichrangig mit allgemeiner Bildung ist. Das Studium allein ist eben nicht der Königsweg! Auch eine gute duale Ausbildung kann sehr großen Erfolg bringen. Die Landesregierung belässt es nicht bei Worten. Sie hat das Bündnis für duale Ausbildung ins Leben gerufen und die Sozialpartner mit ins Boot geholt. Dieses Bündnis bearbeitet unter anderem die Frage, wie die berufliche Ausbildung auch für leistungsstarke junge Leute wieder attraktiver gemacht werden kann. Es geht aber auch um die Frage, wie wir weniger leistungsstarke Jugendliche besser dabei unterstützen können, um erfolgreich eine duale Ausbildung zu absolvieren. Kein Jugendlicher darf verlorengehen. Eines bleibt aber: Die Ausbildung ist eine Ausbildung, auch die duale. Dafür tragen neben der Schule auch die Eltern und die Betriebe eine Verantwortung. Unternehmen dürfen nicht erwarten, dass die jungen Menschen bereits „vollendet“ in die Betriebe kommen. Es muss auch der Wirtschaft klar sein, dass sich auch diese Jugendlichen im Prozess des Erwachsenwerdens noch entwickeln.

Wie kann man die duale Ausbildung attraktiver machen?

Im Bündnis duale Berufsausbildung geht es zum Beispiel um die Frage, wie wir in den allgemeinbildenden Schulen die Berufsorientierung stärken können. Thema ist auch, wie wir eine wohnortnahe und zugleich hochqualitative berufliche Grundbildung sicherstellen können. Darüber hinaus sollen Antworten darauf gefunden werden, wie wir die Beratung und Unterstützung von weniger leistungsfähigen jungen Menschen sicherstellen können. Die daran beteiligten Stellen verteilen sich bisher auf verschiedene Institutionen – von der Schule über die Jugendhilfe bis hin zur Bundesagentur für Arbeit. Sinnvoll wäre es, diese Anlaufpunkte zu bündeln. Wie wir das erreichen können, diskutieren wir gerade. Ich hoffe, dass wir zu Beginn des neuen Schuljahres im September schon erste Modellprojekte auf den Weg bringen können.

Muss nicht auch an Gymnasien die Berufsorientierung verstärkt werden? Nach unserer Wahrnehmung findet diese hier in viel zu geringem Ausmaß statt.

Sie sprechen damit ein wichtiges Thema an. Wir haben einen Schulgesetzentwurf auf den Weg gebracht, in dem wir die Schulzeitdauer von derzeit acht wieder auf neun Jahre verlängern. Ein deutlicher Teil der damit gewonnenen Zeit soll für die Berufsorientierung genutzt werden. Mir ist bewusst, dass die Unternehmerverbände in Niedersachsen die Rückkehr von zwölf zu 13 Schuljahren kritisch sehen. Doch die Änderung kommt auch der Wirtschaft zugute, denn wir wollen in der gewonnenen Zeit an Gymnasien und Gesamtschulen die Berufs- und Studienorientierung stärker verankern. An den Haupt- und Realschulen in Niedersachsen sind wir schon recht weit – weiter als in anderen Bundesländern. Wir arbeiten hier zum Beispiel mit Schülerfirmen, erproben genossenschaftliches Arbeiten und haben bis zu 80 Praxistage. Aber an den Gymnasien oder Gesamtschulen  können und sollten wir noch mehr tun.

Warum ist das so wichtig?

Eine aus meiner Sicht zu hohe Zahl von Berufs- und Studienabbrechern spricht dafür, dass Stellv. HGF Jan Loleit, Frauke Heiligenstadtwir hier mehr Berufsorientierung brauchen. An den Haupt-, Real- und Oberschulen haben wir bereits Kompetenzfeststellungsverfahren, über die Jugendliche herausfinden können, welche Stärken und Schwächen sie haben. Sie lernen die eigenen Neigungen und Begabungen kennen. Das wünsche ich mir an unseren Gesamtschulen und Gymnasien auch. Doch dafür fehlt bis dato die Zeit. Bisher haben die Gymnasien nur ein 14-tägiges Praktikum. Ich wünsche mir ein zweites Praktikum in einer anderen Altersstufe. Dabei geht es nicht nur um die Erkundung betrieblicher, sondern auch universitärer Bereiche. Das kann auch den Zuspruch für die duale Ausbildung und das duale Studium erhöhen.

Der Jugendforscher Professor Klaus Hurrelmann fordert im Gespräch mit DIE BAUSTELLE eine stärkere Öffnung der dualen Ausbildung für anschließende Studien, um sie für junge Leistungsträger attraktiver zu machen. Was meinen Sie zu diesem Reformaufruf?

Wenn wir die Gleichwertigkeit betonen wollen, brauchen wir die hier geforderte Durchlässigkeit von dualer Ausbildung zum Studium. Wir setzen uns in Niedersachsen sehr stark für die „offene Hochschule“ ein. Das heißt: Sie können mit einem Gesellenbrief ins Studium einsteigen. Das wird aber viel zu selten genutzt. Ich bin dafür, dass die Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Ausbildungsgängen größer werden muss. Die bestehenden Übergangsmöglichkeiten müssen wir alle stärker als bisher kommunizieren.

Könnten mehr Gesamtschulen nicht eine noch stärkere Akademisierung mit sich bringen, statt die Aufmerksamkeit der jungen Leute auf berufliche Bildungsangebote zu lenken?

Zugunsten der Gesamtschulen muss gesagt werden, dass es hier im Unterschied zu den Gymnasien den Bereich „Arbeit, Wirtschaft, Technik“ bereits gibt. Die preisgekrönte Integrierte Gesamtschule in Göttingen hat zum Beispiel eigene Werkstätten.

Dennoch steigt mit den Gesamtschulen auch die Zahl der Abiturienten, von denen viele hinterher ins Studium streben. Ist da die Befürchtung von Betrieben nicht verständlich, dass sie diese Jugendlichen für die duale Ausbildung verlieren könnten?

Jeder, der Abitur machen möchte und es von seinen Fähigkeiten her kann, soll dies tun können. Wichtig ist die Durchlässigkeit. In Niedersachsen kann man das Abitur auch an einem beruflichen Gymnasium ablegen. Wir müssen gemeinsam mit den Betrieben dafür werben, dass die duale Ausbildung eine gleichwertige Alternative ist und viele Aufstiegsmöglichkeiten bietet. Mit Zusatzqualifikationen wie dem Europakaufmann oder dem so genannten Chinakaufmann kann man höchst attraktiv für potenzielle Arbeitgeber sein. Das ist eine Alternative auch für leistungsstärkere Absolventen. Sie hat im Übrigen auch finanzielle Vorteile, weil sofort ein eigenes Einkommen verdient wird. Sie führt auch danach wesentlich schneller zu einem beruflichen Einkommen.

In der Zeitschrift „Forschung & Lehre“ prangert der frühere SPD-Kulturstaatsminister Professor Julian Nida-Rümelin den „Akademisierungswahn“ an. Würden Sie diese Aussage unterschreiben?

Nein! Die Sozialdemokratie hat sich stets dafür eingesetzt, dass junge Menschen bei entsprechender Leistung den Bildungsabschluss erreichen können, den sie sich vorgenommen haben. Ich werde nicht dafür werben, weniger Abitur zu machen oder weniger zu studieren. In dieser Debatte über den so genannten Akademisierungswahn wird allzu oft die Frage aufgeworfen, ob man Begrenzungen einziehen und neue Hürden aufbauen sollte, damit nur noch bestimmte Absolventen einen Zugang zu Abitur oder Studium erhalten. Ich möchte der Debatte eine andere Richtung geben: Die duale Ausbildung muss attraktiver werden und als gute Alternative zum Studium beworben werden. Junge Leute werden hier anders als auf Hochschulen sofort betrieblich eingebunden, sie verdienen sofort eigenes Geld und sehen sofort Ergebnisse ihrer Arbeit. Attraktiver werden muss und kann die duale Ausbildung durch eine stärkere Vernetzung mit darauf aufbauenden Studienangeboten. Ich halte nichts davon, neue Hürden für Abitur und Studium aufzubauen.

Immer wieder hören wir in der Wirtschaft den Vorwurf, dass die Kompetenzen von Schulabgängern lückenhaft sind – zum Beispiel bei Grundfertigkeiten wie Rechtschreibung und Rechnen. Wie stellt sich das aus Ihrer Sicht dar?

Dieser Vorwurf wird seit langem immer wieder erhoben. Das ist sicher differenziert und branchenbezogen zu betrachten. Eine Studie des Bundesinstituts für Berufsbildung hat zudem ergeben, dass die jungen Menschen hochmotiviert und leistungsstark sind. Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir uns um jene kümmern müssen, die Unterstützung brauchen, weil sie die steigenden Anforderungen in den Ausbildungsberufen nicht mehr erfüllen können. In Niedersachsen bauen wir deshalb systematisch die Ganztagsschule aus, damit auch junge Menschen, die von Zuhause aus keine idealen Startbedingungen haben, eine angemessene Förderung erhalten können. Wir investieren in den nächsten dreieinhalb Jahren rund 370 Millionen Euro zusätzlich in unsere 1700 Ganztagsschulen. Das ist übrigens auch deshalb gut für die Unternehmen, weil es beiden Elternteilen mehr Freiraum gibt, sich beruflich zu engagieren.

Lassen Sie uns noch einmal auf den Status Quo zurückkommen. Ist die Kritik der Wirtschaft an Mängeln bei Grundfertigkeiten wie Mathematik berechtigt?

Standardmäßig kritisieren Repräsentanten der Wirtschaft die Fähigkeiten auf mathematischem Gebiet, zum Beispiel Kopfrechnen. Wir begegnen diesem Problem, indem wir zum Beispiel hilfsmittelfreie Prüfungen eingeführt haben – das heißt: Hier dürfen keine Taschenrechner oder ähnliches eingesetzt werden.

In Niedersachsen verzeichnen wir erfreulicherweise eine Steigerung der Azubi-Zahlen, während diese im Bundesschnitt sinken. Viele glauben, dass diese Erfolge - neben der guten Konjunktur - den Berufsfachschulen „Bautechnik“ zu verdanken sind. Ist das ein Thema, das für Ihr Ministerium eine Rolle spielt?

Seim, HeiligenstadtBei Berufsfachschulen insgesamt geht es für mich um die Frage: Wird sie auf die spätere Ausbildung angerechnet wie früher das Berufsgrundschuljahr? Gerade im Bereich Bautechnik geschieht dies oft – und das bewerte ich sehr positiv. Wir haben aber auch Berufsfachschul-Ausbildungsgänge, die eher einen Übergangscharakter haben und nicht angerechnet werden. In diesem Fall verlängert sich für den Jugendlichen nur dessen Zeit bis zur Aufnahme einer dualen Ausbildung. Insgesamt ist in Niedersachsen die Zusammenarbeit zwischen berufsbildenden Schulen und Betrieben gut.

Gerade bei den Berufsfachschulen, die in unserer Branche offenkundig gute Arbeit leisten, sind wir aber mit einem Lehrermangel konfrontiert. Hierdurch kommt es vor, dass Fliesenleger angehende Maurer unterrichten. Wie kann man hier Abhilfe schaffen?

Der Mangel an Lehrkräftenachwuchs im gesamten gewerblich-technischen Bereich ist ein großes Problem, das allerdings bereits vor unserer Regierungsübernahme entstanden ist. Man hat es über einen längeren Zeitraum versäumt, genügend Fachpraxis- und Berufsschullehrer zu rekrutieren. Demnächst werden eine ganze Reihe dieser Lehrerinnen und Lehrer in Pension gehen und wir tun uns aufgrund der vorgefundenen Situation schwer, die Lücken zu füllen.

Woran liegt das?

Der Ausbildungsweg bis zum Berufsschullehrer ist sehr lang. Zunächst muss eine berufliche Qualifikation erworben werden. Dann folgt das Lehramtsstudium für Berufsschullehrer. Danach schließt sich noch der Vorbereitungsdienst an. Der zweite Grund: In Zeiten guter Konjunktur bieten die Betriebe potenziellen Kandidaten Konditionen, die zunächst einmal attraktiver sind als jene, die das festgefügte Besoldungsrecht offerieren kann. Deshalb müssen wir gemeinsam mit den Unternehmen schauen, wie wir diese Engpässe kurz- und mittelfristig beheben können – möglicherweise mit Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern  aus der Praxis.

Zum Abschluss noch eine Frage zum niedersächsischen Schulgesetz: Lehrer müssen ihre Mitarbeit in Prüfungsausschüssen nun als Nebentätigkeit führen. Wir befürchten nun, dass Lehrer sich künftig schwerer tun werden, in Prüfungsausschüssen mitzuarbeiten. Wie stellen Sie sich dazu?

Da kann ich sie beruhigen. Wir haben uns darüber auch bereits schriftlich mit Kammern und Verbänden ausgetauscht. An der geübten Praxis wird sich nichts ändern. Die Formulierung soll nur mehr Rechtssicherheit bringen. Wir wollen, dass Lehrerinnen und Lehrer weiterhin in Ausschüssen mitarbeiten können, ohne dass zusätzliche Kosten und Bürokratie entstehen.

Frau Ministerin, wir danken für dieses Gespräch.

 

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