Prof. Christoph M. Schmidt, Vorsitzender des Rates der Wirtschaftsweisen: „Engpässe im Baugewerbe und im baunahen Handwerk besonders ausgeprägt“

Prof. Dr. Christoph M. Schmidt ist Vorsitzender des Sachverständigenrates (Wirtschaftsweise), dem er seit März 2009 angehört. Er ist zudem Präsident des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Essen und Professor für Wirtschaftspolitik und angewandte Ökonometrie an der Ruhr-Universität Bochum. DIE BAUSTELLE sprach mit ihm über das jüngste Gutachten des Rates der Wirtschaftsweisen sowie Anliegen der Unternehmen des Baugewerbes und des Handwerks.

Porträt von Prof. Christoph M. Schmidt, Vorsitzender des Rates der Wirtschaftsweisen

Herr Professor Schmidt, Sie warnen in Ihrem jüngsten Gutachten vor einer Überauslastung der Wirtschaft. Gilt das aus Ihrer Sicht auch für das Baugewerbe und das baunahe Handwerk?

Die deutsche Volkswirtschaft wächst bereits seit einigen Jahren stärker als ihr Potenzial. Dies hat mittlerweile zur Folge, dass ihre Produktionskapazitäten überausgelastet sind. Viele Umfragen deuten darauf hin, dass die Engpässe im Baugewerbe und im baunahen Handwerk besonders ausgeprägt sind. Der Sachverständigenrat warnt aber davor, die aktuellen Wachstumsraten als langfristig gesichert anzusehen. Sie sind zumindest zum Teil lediglich Ausdruck der guten konjunkturellen Lage, die im Kern flüchtig ist. Die Wirtschaftspolitik ist daher aufgefordert, finanzpolitische Solidität zu wahren und an der Verbesserung des Potenzialwachstums zu arbeiten.

Was wären mögliche Konsequenzen einer Überauslastung der (Bau-)Wirtschaft?

Eine Überauslastung führt für Kunden zu steigenden Lieferzeiten und für Unternehmen zu Schwierigkeiten, ausreichend Arbeitskräfte zu finden. Dadurch werden die Wachstumsaussichten wieder eingebremst. Zudem werden im Zustand der Überauslastung tendenziell manch falsche Investitionsentscheidungen getroffen. Bei einem späteren Abflauen der Konjunktur zwingen diese dann zu schmerzhaften Anpassungen.

Gerade bei personalintensiven Betrieben wie den kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) des Baugewerbes oder des Handwerks schlagen Sozialbeiträge stärker durch als in Industriebetrieben. Was kann getan werden, damit die Sozialbeiträge nicht aus dem Ruder laufen?

Kurzfristig befürwortet der Sachverständigenrat eine Rückführung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung. Insgesamt hat die Politik die Gestaltungsaufgabe, die Belastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie der sie beschäftigenden Unternehmen zu reduzieren, um das Schaffen von Arbeitsplätzen attraktiver zu machen. Dazu gehört nicht zuletzt eine Aufgaben- und Ausgabenkritik des Staates selbst. Mehr öffentliche Investitionen sind angesichts der guten Haushaltslage möglich, selbst wenn der Staat seine Einnahmen nicht mehr im gleichen Tempo ausweitet wie bisher. Dazu müsste er lediglich die Prioritäten seiner Haushaltsplanung umstellen – politisch ist dies zwar eine schwere Aufgabe, aber aus Sicht der Bürger sicherlich nicht zu viel verlangt.

Die gute Beschäftigung füllt derzeit die Sozialkassen und auch die Arbeitslosenversicherung. Der Sachverständigenrat hat dafür plädiert, den derzeitigen Satz um 0,5 Prozentpunkte zu senken. Können Sie uns noch einmal für wirtschaftswissenschaftliche Laien erläutern, warum das (Bau-)unternehmen und ihren Beschäftigten nutzt?

Eine niedrige Belastung mit Sozialabgaben geht Hand in Hand mit einer vergleichsweise geringen Spreizung zwischen dem, was Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an Einkommen aus ihrer Tätigkeit erzielen können, und dem, was Unternehmen für die Bereitstellung dieser Arbeitsplätze an Kosten zu tragen haben. Für das Beschäftigungswachstum sind die Arbeitskosten ein wichtiger Faktor. Das gilt insbesondere in Zeiten des rasanten Strukturwandels und der wachsenden Möglichkeiten, Tätigkeiten von Menschen auf Maschinen zu übertragen.

Haben wir Spielräume, um die Beiträge hier möglicherweise gar zu senken?

Ein wichtiges Handlungsfeld ist die demografiefeste Organisation der Alterssicherung. Hier sehen wir mindestens zwei zentrale Ansatzpunkte. Zum einen gilt es, den Weg hin zu einem Alterssicherungssystem mit drei Säulen konsequent weiterzuführen. Neben der umlagefinanzierten, gesetzlichen Rentenversicherung sind mittlerweile die betriebliche Altersversicherung und die kapitalgedeckte private Alterssicherung getreten. Gerade die letztgenannte Säule müsste noch gestärkt werden, etwa durch Verfahrensvereinfachungen. Zum anderen sollte in der Gesetzlichen Rentenversicherung das Renteneintrittsalter perspektivisch als ein drittes Anpassungsventil neben die Erhöhung der Beiträge und die Absenkung der Rentenleistung treten, denn die Lebenserwartung wird aller Voraussicht nach auch nach 2030 noch steigen. Es wäre dann richtig, die Jahrgänge der in den 1980er- und 1990er-Jahren Geborenen an der Finanzierung ihrer eigenen längeren Rentenbezugsdauer zu beteiligen, indem sie etwas länger arbeiten.

Einer ihrer Schwerpunkte ist die Arbeitsmarktökonomie. Was kann und sollte eine neue Bundesregierung tun, um den deutschen Arbeitsmarkt weiter zu vitalisieren?

Das große Thema der kommenden Jahre werden Fachkräfteengpässe sein. Sie sind zum einen dem demographischen Wandel geschuldet, zum anderen wird die digitalisierte Arbeitswelt der Zukunft viele neue Kompetenzen und insbesondere eine hohe Anpassungsfähigkeit an neue Herausforderungen verlangen. Der Sachverständigenrat schlägt dazu eine dreigleisige Strategie vor: Erstens sollte das vorhandene Arbeitskräftepotenzial stärker genutzt werden. Hier steht die Beteiligung von Frauen und Älteren im Mittelpunkt. Zweitens sollte das Potenzial an Arbeitskräften ausgebaut werden, nicht zuletzt durch eine stärkere Öffnung gegenüber der Erwerbsmigration von beruflich Qualifizierten. Drittens sind hohe Bildungsanstrengungen nötig, die vor allem allgemeine Kenntnisse betonen sollten, die man beim Strukturwandel zur neuen Wirkungsstätte mitnehmen kann.

Ein Ärgernis sind aus Sicht von Christian Staub, Präsident des Baugewerbe-Verbandes Niedersachsen, auchMindestlohnaufzeichnungspflichten und andere Dokumentationen, die gerade kleineren Unternehmen viel Mühe bereiten. Überfordert der Staat KMU mit Dokumentationspflichten? Und wo sollte man Regulierung im Sinne dieser Unternehmensgruppe zurückfahren?

Kleinteilige gesetzliche Regelungen, die in die Marktergebnisse direkt eingreifen, sind ohne kleinteilige Dokumentation und Kontrolle nicht denkbar. Das war einer der Gründe, warum der Sachverständigenrat bei der Einführung des flächendeckenden Mindestlohns ehedem sehr skeptisch war. So einfach ist der Mindestlohn nämlich dann in der betrieblichen Praxis doch nicht. Es wäre gut, wenn die Politik – aber vor allem auch die Öffentlichkeit – nicht so sehr im Gedankengerüst eines großen Industriebetriebs mit seinen quasi-behördlichen Abläufen verfangen wäre, sondern auch die gewaltige informelle Organisationsleistung der KMU respektierte.

Sie fordern in Ihrem Gutachten auch „bessere Möglichkeiten zur Erwerbsmigration“. Handwerkspräsident Wollseifer verlangt ein Einwanderungsgesetz mit Punktesystem nach kanadischem Vorbild. Wäre das ein Weg? Und: Welche Vorstellungen haben Sie in Bezug auf „bessere Möglichkeiten zur Erwerbsmigration“.

Die Regelung der Erwerbsmigration nach Deutschland, etwa für Akademiker, hat in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht. Daher erscheint mittlerweile ein umfassendes Punktesystem nach kanadischem Vorbild überholt. Vielmehr sollte die Aufmerksamkeit nun einem bestimmten Ausschnitt potenzieller Erwerbsmigranten von außerhalb der EU gelten, nämlich den beruflich bereits Qualifizierten und denjenigen, die in Deutschland eine berufliche Qualifizierung anstreben. Der ausdrückliche Nachweis, dass die angebotene Arbeit einen Mangelberuf betrifft, sollte nicht mehr nötig sein.

Wie und von welchen Personengruppen könnten Baugewerbe und Bauhandwerk davon profitieren?

In der sich schnell wandelnden Arbeitswelt von Morgen sind allgemeine Kompetenzen und schnelle Anpassungsfähigkeit gefordert, nicht so sehr spezifische Fertigkeiten. Baugewerbe und Bauhandwerk könnten künftig wohl jeden neuen Beschäftigten gut gebrauchen, der über eine solide Berufsausbildung verfügt und den Willen mitbringt, sich auf neue Anforderungen rasch einzustellen.

Sie haben in Ihrem Gutachten eine Lockerung des Arbeitszeitgesetzes gefordert, insbesondere die Elf-Stunden-Ruhezeitregel. Es geht Ihnen um notwendige Anpassungen im Zuge der Digitalisierung. Wo kann dies zum Thema für Bau und Handwerk werden? Und welche Vorteile könnte eine Modernisierung des Arbeitszeitgesetzes den Arbeitnehmern und Arbeitgebern in der Baubranche beziehungsweise im Handwerk bringen?

Viele Unternehmen, sicherlich auch in der Baubranche und im Handwerk, werden in der Zukunft immer mehr „Wissensarbeiter“ in ihren Reihen haben. Junge, mobile Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit hoher Qualifikation werden sich ihr Wirkungsfeld frei aussuchen können. Unternehmen werden sie nur dann als Beschäftigte gewinnen können, wenn sie ihnen die Möglichkeit geben, ihre Arbeitszeit so flexibel zu gestalten, dass individuelle Wünsche und familiäre Anforderungen damit vereinbar sind. Angesichts der bald drohenden Fachkräfteengpässe in Bau und Handwerk sind flexiblere gesetzliche Rahmenbedingungen unbedingt angezeigt.

Die andauernde Niedrigzinsphase hat auch der Bauwirtschaft Impulse gebracht. Sie sprechen die möglichen Folgen eines Zinssprungs an. Halten Sie diesen in den kommenden Jahren für möglich, notwendig und/oder wahrscheinlich?

Für einen sprunghaften Anstieg der Zinsen gibt es aktuell keine Notwendigkeit, aber eine behutsame Rückführung des Expansionsgrads der Geldpolitik ist unbedingt angezeigt. Dabei sollten zunächst die Zinsen am langen Ende der Zinsstrukturkurve angehoben werden. Erst später ließe sich an eine Anhebung der Leitzinsen denken. Doch da sind wir noch lange nicht. Erst einmal sollte die Europäische Zentralbank mit einer Kommunikationsstrategie ihren Rückzug aus der fortwährenden Bilanzausweitung durch Anleihekäufe begleiten.

In Ihrem Gutachten mahnen Sie die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte an. Andererseits bestehen große Defizite bei der Erhaltung unserer Infrastruktur beziehungsweise deren Ausbau.

Die Politik hat bei der Gestaltung der öffentlichen Haushalte eine große Verantwortung. Es gibt keinen guten Grund, warum sie bei der mit öffentlichen Investitionen verbundenen Vorbereitung auf die Zukunft einen soliden finanzpolitischen Pfad verlassen sollte. Der Staat hat Rekordeinnahmen, da ist es lediglich eine Frage der richtigen Prioritätensetzung, unsere Infrastruktur zielgerichtet aufrecht zu erhalten, zu erweitern und gleichzeitig Einnahmen und Ausgaben zu balancieren. Natürlich fällt es leichter, teure Geschenke an einzelne Wählergruppen zu verteilen, wie beispielsweise die Mütterrente und die Rente mit 63, und anschließend mehr Einnahmen für Investitionen zu verlangen. Überzeugend ist das aber nicht.

In welchem Sektor sollte sich der Staat stärker engagieren, und wo sehen Sie hier Chancen für das Baugewerbe?

Der Staat hat eine wichtige Rolle als Ermöglicher für den Ausbau der digitalen Infrastruktur und die Bereitstellung von mehr Wohnraum. In beiden Fällen liegt aber der Fokus auf der richtigen regulatorischen Rahmensetzung, nicht darauf, dass er selbst investiert. So sollten vor allem Private in das Breitbandnetz investieren. Dies wird sich genau dann besonders gut rechnen, wenn die Regulierung für die Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle attraktiver wird. Ebenso sollten vor allem Private in die Bereitstellung von Wohnraum investieren. Gut gemeinte, aber unsinnige Hemmnisse wie die Mietpreisbremse müssten daher abgeschafft werden.

Woher kann/soll das Geld für notwendige Infrastrukturinvestitionen kommen, wenn auf der anderen Seite die öffentlichen Haushalte sich konsolidieren sollen und müssen?

Für öffentliche Investitionen sind genügend Mittel vorhanden. Es gilt vor allem, den Investitionsstandort Deutschland für private Investoren attraktiver zu gestalten. Im Zweifelsfall gelingt dies nicht mit steigenden staatlichen Ausgaben, sondern mit Zurückhaltung bei der kleinteiligen Steuerung der Wirtschaft.

Sie schreiben in Ihrem Gutachten: „Generell sollten die strengeren Regeln zur Bestimmung des Haushaltsdefizits aus den europäischen Fiskalregeln für die deutsche Schuldenbremse übernommen werden.“ Laufen wir damit nicht Gefahr, dass das Geld für öffentliche Bauten noch knapper wird?

Es ist ein Mythos, dass die Schuldenbremse die öffentliche Hand an sinnvollen Investitionen hindert. Es sollte doch möglich sein, dass der Staat seine Ausgaben grundsätzlich an den Einnahmen ausrichtet. Wenn ein öffentlicher Bau sinnvoll ist, muss der Staat sich schlicht fragen, was er stattdessen aufzugeben bereit ist.

Sind Public-Private-Partnerships (PPP) bei Großprojekten aus Ihrer Sicht ein Weg, notwendige Investitionen voranzubringen?

Die Partnerschaft zwischen Öffentlichen und Privaten kann durchaus sinnvoll sein, aber bisweilen auch problematisch. Da fehlende öffentliche Mittel derzeit gar nicht der entscheidende Engpass sind, wäre es einfacher und transparenter, wenn die Politik den öffentlichen Investitionen schlichtweg eine höhere Priorität einräumte.

Was kann und sollte getan werden, damit auch mittelständische Bau- und Handwerksunternehmen an PPP partizipieren können, und nicht nur europaweit agierende Konzerne?

Gerade den KMU wäre am meisten geholfen, wenn der Staat keine aktive Industriepolitik verfolge, sondern den Unternehmen einfach größere Handlungsspielräume gäbe, um ihren wirtschaftlichen Erfolg eigenständig zu erarbeiten und dessen Früchte zu ernten.

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