Wahlprüfsteine des Handwerks: Interview mit Hans Peter Wollseifer

Hans Peter Wollseifer ist seit dem 1. Januar 2014 Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks. Bei einem Interview in Berlin im Vorfeld der Bundestagswahl am 24. September formulierte er aus Sicht des Deutschen Handwerks Wahlprüfsteine für eine künftige Bundesregierung. Das Gespräch bewegte sich auch um die Ergebnisse des Diesel-Gipfels und die Umlagen aus dem Erneuerbare Energiegesetz.

Portrait von Hans Peter Wollseifer

Herr Wollseifer, Verbände melden sich vor der Wahl mit unterschiedlichsten Forderungen zu Wort. Was sind Ihre Wahlprüfsteine für das Handwerk?
Sie sind so vielfältig wie das gesamte Handwerk. Wir haben 130 verschiedene Berufe. Es gibt zentrale Positionen für alle. Unsere Forderungen an eine neue Bundesregierung zielen auf den sozialen Zusammenhalt ab. Eine zentrale Voraussetzung dafür ist, dass unsere vielfach familiengeführten Handwerksbetriebe auch in Zukunft prosperieren können.

Wie sieht das bezogen auf einzelne Parteien aus Ihrer Sicht aus?

Wir haben bei der CDU hohe Überschneidungen im Berufsbildungsbereich. Duales und triales Studium, Berufsabitur – die Union hat unseren Input, den wir unter anderem über die Kultusministerkonferenz eingespeist haben – aufgegriffen. Wir brauchen als Handwerk Zugang zu allen Schulformen – auch zu Gymnasien: Schüler müssen hier nicht allein auf den akademischen Weg, sondern aufs Leben vorbereitet werden. Mit der Union haben wir auch steuerpolitische Überschneidungen. Wir sind uns einig, dass der Soli kontinuierlich abgebaut werden muss. Wir sind grundsätzlich auch einer Meinung darüber, dass die Sozialversicherungssysteme demografiefest gemacht werden müssen. Über das Grundsätzliche hinaus erwarten wir allerdings von der Union mehr Klarheit darüber, was das konkret bedeutet und wie das umgesetzt werden muss.

Und wie?

Wir meinen, dass im Interesse unserer Betriebe UND ihrer Beschäftigten eine Beitragsgrenze von 40 Prozent nicht überschritten werden darf! Wir stellen überdurchschnittlich viele Arbeitsplätze. Insofern trifft uns jeder Prozentpunkt mehr bei den Sozialbeiträgen wesentlich härter als beispielsweise die Industrie. Der DGB geht bis zum Ende der kommenden Legislaturperiode von einer Zunahme von 3,7 Prozentpunkten aus. Das würde eine Mehrbelastung von rund 18,5 Milliarden Euro bundesweit für die Betriebe bedeuten! Das ist für uns nicht verkraftbar.

Wie kommen wir aus dem Dilemma heraus, dass unsere Gesellschaft älter wird, und dass deshalb die Kosten in den Sozialversicherungssystemen steigen?

Wir müssen Sozialversicherungssysteme wieder auf das zurückführen, wofür sie geschaffen worden sind und gesamtgesellschaftliche Aufgaben, versicherungsfremde Leistungen, aus der Steuerkasse finanzieren. Dazu zählen zum Beispiel die Familienmitversicherung und auch die Aufwände der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Im Gesundheitsbereich sehe ich große Einsparpotenziale. Warum sind beispielsweise Pharmaprodukte, die wir im Ausland kaufen können, bei uns wesentlich teurer? Wenn wir sie reimportieren, würde es hierzulande wesentlich billiger werden. Wenn wir all das konsequent umsetzen, so könnten wir zumindest mittelfristig die Mehrkosten tragen und die Sozialbeiträge stabil halten. Dazu fehlen mir klare Worte der CDU im Wahlprogramm. Wir müssen durch Beitragsstabilität dafür sorgen, dass unsere Arbeitnehmer in Zukunft ein vernünftiges Netto vom Brutto haben. Das ist auch eine Frage der Gerechtigkeit.

SPD-Kanzlerkandidat Schulz hat sich eben diese Gerechtigkeit auf die Fahne geschrieben.


Das Wahlprogramm der SPD enthält Positionen, die für erhebliche Steigerungen der Sozialkosten sorgen werden. Das hat mit Gerechtigkeit aus meiner Sicht nichts zu tun. Durch Mütterrente und Rente mit 63 sind bereits in der vergangenen Legislaturperiode erhebliche Mehrkosten entstanden: 10 Milliarden Euro jedes Jahr. Das werden die Sozialsysteme auf Dauer nicht verkraften. Ich fordere die politischen Parteien dazu auf, in Kategorien der Generationengerechtigkeit zu denken! Wir dürfen vor allem den Jungen nicht noch mehr Kosten aufbürden. Wir denken im Handwerk traditionell in Generationen – das bedeutet auch, dass Generationengerechtigkeit für uns im Vordergrund steht. Nachfolgende Generationen müssen in der Lage sein, eine Familie zu gründen, ein Haus zu bauen und sich Wohlstand erarbeiten können.

Nun haben wir in den Sozialsystemen eine wichtige Anpassung, die Rente mit 67, bereits durchgesetzt ...

Die Lebenserwartung steigt weiter. Statt einer Diskussion über das Renteneintrittsalter bin ich dafür, dem Beispiel der Niederlande und Dänemarks zu folgen und das gesetzliche Renteneintrittsalter automatisch an die Veränderung der Lebenserwartung zu koppeln. Damit vermeiden wir alle Jahre wiederkehrende Diskussionen. Wenn wir im Schnitt immer älter werden und dabei fitter bleiben, dann müssen auch die Älteren mithelfen, Generationengerechtigkeit herzustellen. In den 90er-Jahren haben noch vier aktive Arbeitnehmer einen Rentner versorgt, heute sind es Zwei. Und das Verhältnis wird schlechter. Das können wir unserer Jugend nicht antun.

Soll der Zimmerer mit 67 Jahren immer noch aufs Dach?

Wer das nicht mehr kann, der sollte eine Erwerbsminderungsrente erhalten, die sein Auskommen sichert. Aber auch im Handwerk und Baugewerbe gibt es nicht nur Dachdecker und Zimmerer, die gern als Beispiele angeführt werden. Wir reden aber auch über Bürokräfte. Viele Menschen wollen auch länger eine Aufgabe haben, als das bisher die Regel ist.

Soli und Sozialbeiträge haben Sie angesprochen. Wo könnte und sollte eine künftige Bundesregierung die Kosten für die Handwerksunternehmen noch im Zaum halten?

Ein Ärgernis ist die kalte Progression. Der sogenannte Mittelstandsbauch trifft viele Handwerker und Baugewerbetreibe, weil wir es hier ja zumeist mit kleinen und mittleren Unternehmen zu tun haben. Erste Schritte sind getan. Aber die müssen weiter gegangen werden. Martin Schulz will, dass der Spitzensteuersatz später greifen soll. Dafür soll er aber zugleich erhöht werden. Davon sind unsere Handwerker besonders betroffen, denn sie arbeiten vielfach in Personengesellschaften. Sie sind steuerlich ohnehin bereits schlechter dran als Kapitalgesellschaften, die momentan mit rund 30 Prozent besteuert werden.

Meisterpflicht ist ein zentrales Anliegen des Bauhandwerks und des Tischlerhandwerks: Ist die Abschaffung bei der EU-Kommission in Brüssel wirklich vom Tisch?

Die Berufszugangsregulierung ist in Deutschland ja bereits 2004 deutlich beschnitten worden – und zwar auf nationaler Ebene. Damals wurde die Meisterpflicht in 53 Handwerksberufen abgeschafft. Das fatale Ergebnis haben wir heute. Es gibt kaum noch Ausbildung im Fliesenlegerhandwerk und auch in anderen Gewerken. Das führt zu schlechteren Produkten und Dienstleistungen – und zu einem schlechteren Image des Handwerks insgesamt. Das darf sich auf keinen Fall wiederholen oder verstärken. Die nationale Politik auf Bundes- und Landesebene haben wir als Verband davon überzeugt. Eine Subsidiaritätsrüge – die vierte überhaupt – ist deswegen nach Brüssel geschickt worden.

Reicht diese Subsidiaritätsrüge aus?

Nicht ganz. Denn wir haben leider das erforderliche Quorum an Ländern nicht zusammengebracht, um ein Ende des Kommissionsverfahrens durchzusetzen. Frankreich und Österreich haben sich auf unsere Seite gestellt – wir hätten aber sieben EU-Länder gebraucht. Wir haben auch die Sperrminorität verpasst, dazu hätten wir ein Land mehr benötigt. Wenn sich jedoch die zwei größten Volkswirtschaften in der EU - Deutschland und Frankreich - nachdrücklich für die nationale Selbstverwaltung beim Berufszugang stark machen, wird das seinen Eindruck in Brüssel nicht verfehlen.

Sie haben eben schon erwähnt, dass praktisch im gesamten demokratischen Parteienspektrum eine für das Meistersystem positive Stimmung verbreitet wird ...

Das stimmt. Ich hoffe sehr, dass die allgemein positive Stimmung für das Meistersystem und unsere Duale Ausbildung in den Parteien auch nach der Wahl auch noch vorherrscht! Unser Meistersystem dient dem Allgemeinwohl, weil es für Qualität bürgt und Verbraucher so vor Pfusch schützt. Von der gesellschaftlichen Relevanz der Dualen Ausbildung ganz zu schweigen!

Niedrigzinsen, Hochkonjunktur – Baugewerbe und Handwerk erleben derzeit eine Hochkonjunktur, die fast schon unwirklich lange anhält.

Das ist richtig. Wir können in der Tat nicht davon ausgehen, dass wir uns auf unbestimmte Zeit weiter auf einem solchen Hochplateau bewegen. Ich glaube aber, dass unsere Betriebe sich sehr schnell auf neue Marktverhältnisse einstellen können. Dafür muss eine künftige Bundesregierung aber auch die Rahmenbedingungen schaffen.

Soli, Sozialabgaben, Steuerlast, Strompreise, fairer Wettbewerb – das haben wir eben schon alles besprochen. Was muss denn darüber hinaus geschehen?

Der Staat muss mehr investieren – vor allem in die Infrastruktur. Die seit Jahren nicht LKW-taugliche Leverkusener Rheinbrücke ist nur ein Beispiel für den Investitionsrückstand, den wir in Deutschland haben.

Dem Handwerk, das überwiegend Diesel-Fahrzeuge einsetzt, drohen Fahrverbote in den Innenstädten wie Köln und Stuttgart. Was tun?

Ein Handwerker kann beispielsweise einen Heizkessel nicht mit der U-Bahn zum Kunden bringen. Auch der Dachstuhl lässt sich nicht mit dem Fahrrad auf die Baustelle bringen. Er wird mittelfristig weiter auf Diesel-Fahrzeuge angewiesen sein. Und es ist aus meiner Sicht die Pflicht und Schuldigkeit der Autoindustrie, dafür zu sorgen, dass unsere Handwerker mit ihren Fahrzeugen, die ihnen noch vor wenigen Jahren als „sauber" verkauft wurden, zu ihren Kunden kommen. Die entsprechenden Nachrüstungen müssen durch die Autoindustrie durchgeführt und bezahlt werden!

Noch einmal zurück zu den Diesel-Fahrverboten: Kann denn irgendein Stadtrat frei entscheiden, ob bundesweit zugelassene Fahrzeuge in seine Stadt fahren dürfen?

Das werden wir im Herbst erfahren, wenn das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig darüber entscheidet. Grundsätzlich darf das Handwerk mit seinen Dieselfahrzeugen nicht zum umweltpolitischen Prügelknaben der Nation werden. Ich möchte einmal eine andere Frage aufwerfen: Eine Millionen-Metropole wie Berlin oder Hamburg eine Woche lang komplett Diesel-frei halten zu wollen, das ist doch nicht vorstellbar! Wir brauchen eine lebensnahe Lösung mit vernünftigen Übergangsfristen. Und wir brauchen von der Industrie das, was technisch machbar ist: saubere Diesel – und zwar auch auf dem Wege der Nachbesserung: Wenn ein Handwerker vor einigen Jahren einen Diesel-LKW gekauft hat, der damals Stand der Technik war, so muss er sich damit auch uneingeschränkt auf deutschen Straßen bewegen können.

Und was sollte noch auf die Agenda einer neuen Bundesregierung?

Sie muss darüber sorgen, dass unsere Handwerksunternehmen auch in ländlichen Bereichen Hochgeschwindigkeits-Datenanschlüsse erhalten, damit sie am digitalen Fortschritt teilhaben können. Der Markt allein kann das nicht leisten. High Speed-Internet gehört heute zur Grundversorgung wie Strom und Wasser. Aufgepeppte Altmetall-Kupferleitungen helfen uns da nicht weiter. Tischler beispielsweise integrieren 4.0-Technologien, Baugewerbebetriebe sind mit BIM konfrontiert. Wir müssen ihnen die Infrastruktur zur Verfügung stellen, damit sie ihre Fähigkeiten auch einbringen können. Das ist im Interesse unserer nationalen Wettbewerbsfähigkeit unerlässlich. Es kann nicht so bleiben, dass unsere Betriebe sich teilweise Daten auf Sticks laden müssen und dann in die Stadt fahren, um sie zum Kunden zu transferieren.

Noch ein Wort zur Ausbildung?

Wir haben einen Hochschulpakt auf nationaler Ebene: Obwohl Hochschulen eigentlich Länder-Sache sind, hat der Bund ein Paket von 2,8 Milliarden Euro für die Hochschulen geschnürt. Für die Duale Ausbildung und die Berufsschulen ist der Bund originär zuständig. Eine neue Bundesregierung ist aus meiner Sicht in der Pflicht, einen nationalen Berufsbildungs-Pakt zu schmieden. Wir brauchen eine bessere Ausstattung der Berufsschulen und eine Modernisierung sowie Digitalisierung der Ausbildung von Berufsschullehrern. Die Halbwertzeiten der Wissensvermittlung verkürzen sich so sehr, dass man ständig dranbleiben muss. Auch unsere 600 Bildungszentren des Handwerks müssen ständig aktuell gehalten werden. Dafür brauchen wir Bundesmittel, denn die Wirtschaft kann das allein nicht leisten.

Wir kennen Handwerker, die sich deutlich besser stehen als sogenannte Weißkragenberufe.

Das kann ich bestätigen. Die Frage, ob es besser ist, ein wissenschaftlicher Mitarbeiter mit dem x-ten befristeten Arbeitsvertrag zu sein, oder jahrzehntelang Handwerksmeister mit sicherer Position, muss offensiver diskutiert werden. Arbeitslose Meister gibt es in Deutschland derzeit praktisch nicht. Die Arbeitslosenquote liegt hier derzeit unter 1,8 Prozent.

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