Klingebiel zur Errichtung von bezahlbarem Wohnraum: "Wir brauchen jetzt pragmatisches Handeln statt Ideologie"

Frank Klingebiel ist seit 2010 Präsident des Niedersächsischen Städtetages (NST). Diese Organisation vertritt die Interessen von 128 niedersächsischen Städten, Gemeinden und Samtgemeinden mit rund 4,7 Mio. Einwohnern. In diesem Interview äußert sich der NST-Präsident über Voraussetzungen zur Finanzierung und für die zügige Errichtung von bezahlbarem Wohnraum.

Porträt von Frank Klingebiel, Präsident des NST

Allein durch die Zuwanderung der Jahre 2015 und 2016 entstehe inklusive Familiennachzug ein zusätzlicher Bedarf von 50.000 Sozialwohnungen. Insgesamt hält Klingebiel die aktuelle massive Zuwanderung für eine mit der Deutschen Einheit vergleichbare Herausforderung. Hierfür müssten ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall Mittel aus dem ursprünglich für den Aufbau der ostdeutschen Bundesländer vorgesehenen Solidaritätszuschlag (Soli) verwendet werden. Dieser dürfe deshalb nicht abgeschafft werden, sondern solle weiter fortgeführt werden. Neuen Soli-Zuschlägen, wie von Vizekanzler Sigmar Gabriel vorgeschlagen, erteilte Klingebiel eine Absage. Er forderte darüber hinaus, Vorschriften wie die zum Anfang des Jahres in Kraft getretene neue Stufe der Energieeinsparverordnung (EnEV) vorübergehend ruhen zu lassen: „Wir brauchen in dieser außergewöhnlichen Lage pragmatisches Handeln statt Ideologie! Wir müssen jetzt handeln, denn die Leute sind da!“

Wir verzeichnen wachsende Flüchtlingszahlen, aber auch großen Bedarf unter Einheimischen vor allem in Ballungszentren: Wie können wir neuen bezahlbaren Wohnraum schaffen?

Sektorales Denken wird diese außergewöhnliche Lage nicht lösen. Das wird mit einer Mrd. Euro hier, wie sie beispielsweise Bundesbauministerin Barbara Hendricks für Sozialwohnungen fordert, und einer Mrd. dort nicht zu machen sein. Wir haben mit der Flüchtlingskrise eine Herkulesaufgabe vor uns, die in der Dimension mit dem Projekt „Deutsche Einheit“ vergleichbar ist. Wir rechnen bundesweit mit einem Finanzbedarf von 20 bis 30 Mrd. Euro jährlich. Das betrifft längst nicht nur den Wohnungsbau, sondern auch viele andere integrative Aufgaben, die wir bewältigen müssen, zum Beispiel in Kindergärten, Schulen und natürlich für die Integration am Arbeitsmarkt.

Als Baugewerbe-Verband Niedersachsen ist für uns das Thema „Wohnungsbau“ natürlich von besonderem Interesse. Seit Jahren wird bereits nach bezahlbaren Wohnungen gerufen. Warum werden sie nicht in ausreichendem Maß gebaut?

Zurzeit sind weder bei privaten noch bei kommunalen Unternehmen die Renditen im sozialen Wohnungsbau so, dass es lukrativ ist, sich hier zu engagieren.

Kann die neue Sonder-Afa auf Kauf- und Baukosten für Wohnraum helfen, um die benötigten neuen Wohnungen zu schaffen?

Grundsätzlich begrüßt der NST die Sonder-AfA zur Förderung des Wohnungsbaus. Allerdings wird sie uns beim Bau bezahlbarer Wohnungen auch im Sozialwohnungssektor eher weniger nützen. Denn bei dieser Sonder-AfA fehlt die soziale Komponente, weil sie eher dafür sorgen wird, dass neue Wohnungen im gehobenen Segment entstehen, und eben kein neuer Wohnraum für Gering- und Normalverdiener, den wir vor allem in den Ballungsräumen dringend brauchen. Wir benötigen hier eine direkte Förderung über verlorene Zuschüsse, um den Sozialwohnungsbau anzukurbeln.

Infobox zur Sonder-AfA

Woher sollen wir das Geld für solche verlorenen Zuschüsse nehmen?

Die Flüchtlingskrise ist, wie bereits gesagt, eine Jahrhundertaufgabe. Deshalb meine ich, dass wir den Soli nicht – wie von Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble geplant – ab 2019 schrittweise abbauen, sondern fortsetzen. Wir brauchen das Geld aus dem Soli zur Bewältigung der Zuwanderungsfolgen.

SPD-Chef Sigmar Gabriel hat einen neuen Soli für die Flüchtlinge gefordert. Wie stehen Sie dazu?

Ich halte nichts von einer neuen Flüchtlings-Abgabe. Ich meine, dass wir ein Vierteljahrhundert nach der Deutschen Einheit Mittel aus dem Soli gesamtdeutsch verwenden und auch in den Bau von mehr bezahlbaren Wohnungen fließen lassen sollten. Wir brauchen diese Mittel, um Obdachlosigkeit zu verhindern, den sozialen Frieden zu wahren und die Entstehung unerwünschter Parallelgesellschaften zu vermeiden. Da die Kommunen hier eine nationale Aufgabe wahrnehmen, die in ihrer Dimension durchaus mit der Deutschen Einheit gleichzusetzen ist, ist es legitim und notwendig, auf Mittel aus dem Soli zuzugreifen. Dieser ist eine bereits bestehende Abgabe, mit der Menschen und Unternehmen planen können. Neue Steuern sollten wir hier vermeiden.

Niedersachsens Finanzminister Peter-Jürgen Schneider denkt über Erhöhung der Grunderwerbssteuer nach, um Flüchtlingsintegration zu finanzieren. Ist das aus Ihrer Sicht hilfreich?

Die Kommunen haben hierzu eine zweigeteilte Auffassung. Einerseits haben sie alle Einnahmesorgen und auf der anderen Seite immer mehr Ausgaben, auch im Zuge der Flüchtlingskrise. Eine Erhöhung der Grunderwerbssteuer würde ihnen dringend benötigte Mehreinnahmen bringen. Vor dem Hintergrund, dass wir dringend mehr bezahlbaren Wohnraum brauchen, ist die durch den Landesfinanzminister angedachte Grunderwerbssteuer-Erhöhung allerdings kontraproduktiv. Denn sie verteuert Investitionen ins Bauen – das gilt natürlich auch für den sozialen Wohnungsbau. Damit hilft uns eine solche Grunderwerbssteuererhöhung hier nicht weiter. Sie wird ohnehin nicht ausreichen, die Finanzlage der Kommunen entscheidend zu verbessern. Wir müssen stattdessen die Anreize für die Bautätigkeit gerade im sozialen Wohnungsbau erhöhen und dürfen sie nicht einbremsen.

Von welchem Bedarf an Sozialwohnungen in Niedersachsen geht der NST aus?

Wir glauben, dass als Ergebnis des Flüchtlingszuzuges der Jahre 2015 und 2016 inklusive Familiennachzug mehr als 300.000 Menschen dauerhaft in unserem Bundesland bleiben werden. Dafür brauchen wir mindestens 50.000 neue Wohnungen im bezahlbaren Segment. Bundesweit wird eingeschätzt, dass in den kommenden Jahren 350.000 neue Sozialwohnungen jährlich gebraucht werden.

Die Konkurrenz im bezahlbaren Wohnraum wird vor allem in den Ballungszentren wachsen. Wie beurteilen Sie dieses Problem – und wo ist der Druck in Niedersachsen besonders hoch?

Das Problem kommt ja nicht über Nacht über uns! Seit längerem bereits fehlt in Ballungszentren bezahlbarer Wohnraum für geringer Verdienende. Die aktuelle Zuwanderung eskaliert den Mangel nur noch. In Niedersachsen ist der Druck in Hannover, Braunschweig, Oldenburg und Osnabrück besonders groß. In Salzgitter haben wir nur punktuell Engpässe. Denn wir hatten hier zuvor in einigen Ortsteilen Leerstände, die wir nun gut für die Dauerunterbringung von Flüchtlingen nutzen können.

Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln hält die Ausweisung neuer Bauflächen für Wohnraum für das entscheidende Nadelöhr. Weisen die Kommunen zu wenig Bauland aus?

Für Niedersachsen ist die reine Ausweisung von Bauflächen aus meiner Sicht kein flächendeckendes Problem. Unser Fokus liegt natürlich auf Nachverdichtung in den Innenstädten. Wenn wir hier keinen Raum mehr finden, müssen wir Außenflächen ausweisen. Hier sind wir mit einem recht langwierigen Planungsrecht konfrontiert. Zeit kosten hier zum Beispiel die strengen energetischen Vorschriften und Umweltverträglichkeitsprüfungen. Diese umfassende Vorschriftenkulisse raubt uns viel Zeit, wenn es darum geht, Baugebiete zur Baureife zu führen. Es hat einige Erleichterungen im Baurecht gegeben. So ist es zum Beispiel heute möglich, in einem Gewerbegebiet in Salzgitter Flüchtlingswohnungen zu errichten. Nun stand ich als Oberbürgermeister aber vor einem neuen Problem: Die Erschließung dieses Gewerbegebietes war EU-gefördert. Danach darf ich hier aber nur Gewerbebauten errichten. Das Land hat uns nun eine Sondergenehmigung erteilt. Dieses Beispiel zeigt, warum es Kommunen oft erst nach 2,5 Jahren schaffen, eine ausgewiesene Baufläche auch zur Nutzung herzurichten. Hier wünschen wir uns weitere gesetzliche Vereinfachungen, um noch schneller agieren zu können.

Zum Beispiel?

Die EnEV ist zu Beginn des Jahres in einer neuerlich verschärften Stufe in Kraft getreten. Angesichts der aktuellen Herausforderungen sollte man darüber nachdenken, diese neue Verschärfung bei den energetischen Anforderungen für zwei Jahre auszusetzen, um bezahlbare Neubauten kostengünstiger und schneller auf den Weg zu bringen. Wir werden Abstriche von vielen Standards machen müssen, um die Folgen der massiven Zuwanderung managen zu können. Dazu zählen auch Klassen- und Raumgrößen in Schulen und Kindergärten, bis mehr Lehrer und Betreuer gefunden und die notwendigen Räume gebaut sind. Genauso müssen wir zum Beispiel Umweltvorschriften wie die EnEV für eine gewisse Zeit ruhen lassen, um schnell den Raumbedarf neu bauen zu können. Auch die Haushaltsvorschriften, die unsere Kommunen in die Konsolidierung drängen, sollten in dieser besonderen Lage ausgesetzt werden. Weder die EnEV noch die schwarze Null in den öffentlichen Haushalten dürfen in diesen Zeiten in Stein gemeißelt sein. Ich schlage für beides ein zweijähriges Moratorium vor.

Bundesbauministerin Hendricks hat bekräftigt, dass an der EnEV nicht gerüttelt wird. Und Niedersachsens Bauministerin Cornelia Rundt stellt sich hinter sie...

Ein zweijähriges Moratorium bei der EnEV heißt ja nicht, dass wir das langfristige Klimaschutz-Ziel aus den Augen verlieren. Meine persönliche Botschaft an beide Adressen: Wir brauchen in dieser außergewöhnlichen Lage pragmatisches Handeln statt Ideologie! Wir müssen jetzt handeln, denn die Flüchtlinge sind da!

Barbara Ettinger-Brinkmann, Präsidentin der Bundesarchitektenkammer, hat die Kommunen im Interview mit diesem Magazin dazu aufgefordert, verstärkt auch die Unterstützung privater Planungsbüros in Anspruch zu nehmen, um Bauvorhaben schneller abwickeln zu können. Wie bewerten Sie diesen Vorschlag?

Wir haben aktuell das Problem, dass wir auch als Kommunen vielfach nicht genug Ingenieure bekommen, wenn wir Stellen ausschreiben. Dies liegt an der aktuell sehr hohen Nachfrage nach Planungsleistungen. Auch bei den Planungsbüros nehme ich eine hohe Auslastung wahr. Wo möglich und auch erforderlich, habe ich aber keine Bedenken, wenn Kommunen private Planungsbüros einbinden, um Personalengpässe zu überbrücken.

Standardisierte Typenhäuser, die in den Bauordnungen der Länder verankert werden: Sind sie ein Weg, um Planungs- und Genehmigungsprozesse wirksam abzukürzen?

Das hört sich erst einmal gut an. Doch hier stellt sich die Frage, ob diese Standardhäuser überhaupt eine Erleichterung bringen. Bereits jetzt werden individuell gebaute Häuser in Typenklassen zusammengefasst und zentral abgenommen. Auch die Frage der Statik wird ja typenmäßig abgenommen. Insofern stellt sich die Frage, ob wir Typenhäuser wirklich brauchen. Bei Holzhäusern, um Flüchtlinge schnell unterzubringen, gibt es sie. Wir arbeiten bereits damit.

Reizthema Zahlungsverzug: Jedes vierte Bauunternehmen wartet nach aktuellen Zahlen von Creditreform bei öffentlichen Auftraggebern zwischen 30 und 90 Tage auf sein Geld. Bei privaten Auftraggebern sind es nur sechs Prozent. Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?

Das Problem begleitet mich schon seit Jahren. Die Anforderungen öffentlicher Auftraggeber an die Prüffähigkeit als Grund für empfundene Zahlungsverzögerungen sind in der Tat hoch, schließlich verwalten wir Steuergelder. Wir können hier im formalen Verfahren nichts aufweichen. Allerdings räume ich ein, dass mancher im Bereich der öffentlichen Hand schneller an Auftragnehmer herantreten könnte, wenn Unterlagen fehlen oder nicht formal korrekt erstellt wurden. Verzögerungsursachen bei Zahlungen liegen sicher auf beiden Seiten. Beide Seiten sollten sich bemühen, hier zu einer schnelleren Abwicklung zu kommen. Eine engere Zusammenarbeit zwischen Verbänden und Kommunen kann hier Verbesserungen bringen. Die Stadt Salzgitter hat sich zum Beispiel im Rahmen der Einrichtung einer zentralen Anlaufstelle Wirtschaft im März diesen Jahres zum Ziel gesetzt, prüffähige Rechnungen innerhalb von 14 Tagen anzuweisen.

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