Wie tickt die Europäische Union, Frau Meißner?

Seit 2009 ist die niedersächsische FDP-Politikerin Gesine Meißner Europaparlamentarierin in der liberalen Fraktion ALDE. Zuvor war sie von 2003 an Landtagsabgeordnete für die Region Hannover. Im aktuellen Interview sprach der BVN mit ihr über Fragen wie: „Wie tickt die EU? Und was haben kleine und mittlere Unternehmen von ihr zu erwarten?" Themen waren auch das Meistersystem und mögliche Eingriffe von europäischer Seite.

FDP-Politikerin Gesine Meißner

Als Koordinatorin ihrer Fraktion im Ausschuss für Verkehr und Fremdenverkehr des Europäischen Parlamentes berühren Gesine Meißners Zuständigkeiten auch Themen des Baugewerbes. In diesem Gespräch macht sie sich dafür stark, Lose im Autobahnbau via ÖPP auf bestimmte Kilometerlängen zu begrenzen, damit im Wettbewerb mit europäischen Konzernen auch mittelständische Bauunternehmen zum Zuge kommen. Diese Position hatte im Gespräch mit DIE BAUSTELLE zuletzt BVN-Präsident Staub vertreten.

Als norddeutsche liberale Abgeordnete des Europäischen Parlaments vertritt sie die Interessen Niedersachsens, Bremens, Hamburgs, Mecklenburg-Vorpommerns, Sachsen-Anhalts und Schleswig-Holsteins in Europa.

Frau Meißner, schlägt Ihr Herz als Europa-Abgeordnete eher für Europa oder für Deutschland?

Das kommt drauf an! Wenn ich in Deutschland bin, schlägt es für Europa. Und wenn ich in Brüssel bin, schlägt es sehr stark vor allem für den ländlichen Raum in Deutschland und für mein Heimatland im Allgemeinen. Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen und sehr europaorientiert erzogen worden. Meine Eltern hatten ständig Gäste aus vielen Ländern. Bei uns wurden viele Sprachen gesprochen, wir hatten Berührung mit vielen Kulturen und bald die Erkenntnis, dass Freundschaften über Grenzen hinweg unser Leben bereichern. Diese internationale Prägung hatte ich von Anfang an.

Die EU und ihre Organe werden ja vor allem als Hort einer immer stärker ausufernden Bürokratie wahrgenommen. Trifft das aus Ihrer Sicht zu?

Natürlich gibt es zu viel Bürokratie und natürlich kommt diese teilweise auch aus Brüssel. Oft kommt das, was die Leute ärgert, aber nicht aus der EU, sondern resultiert aus der nationalen Umsetzung von EU-Richtlinien. Deutschland ist Weltmeister darin, bei allem, was aus Brüssel kommt, noch eins draufzusetzen. Allerdings kommt auch aus Brüssel immer wieder mehr Bürokratie als notwendig. Und es kommt leider auch ab und zu vor, dass im Europaparlament Mehrheiten für Regelungen entstehen, von denen ein Jeder mit gesundem Menschenverstand weiß, dass sie in der Praxis nicht umsetzbar sein werden.

Was tun?

Einige in der EU-Kommission haben das offenbar erkannt. Denn die Kommission macht zurzeit einen Refit: eine Bestandsaufnahme aller Gesetze. Sie hinterfragt, wo man übers Ziel hinausgeschossen oder möglicherweise unangemessene Bürokratie verursacht hat. Das haben wir in meiner Zeit als Landtagsabgeordnete in Niedersachsen von 2003 bis 2008 unter Schwarz-Gelb übrigens auch einmal gemacht und in der Folge 40 Prozent aller Landesgesetze abgeschafft. Über die sogenannten Sunset Clauses haben wir jetzt auch in Brüssel Gesetze mit Verfallsdatum eingeführt. Dies ist für mich ein gutes Mittel, wenn es zum Beispiel darum geht, akute Probleme zu regeln, deren Dauer absehbar nur begrenzt ist. Das macht Hoffnung.

Reicht Ihnen das schon?

Nein. Wir brauchen in Brüssel einen Normenkontrollrat, der die Folgekosten neuer Gesetze abschätzt. Etwas mit der Bundesrepublik Vergleichbares gibt es hier noch nicht.

Und was tun sie konkret für den unternehmerischen Mittelstand?

Ich bin in dieser Beziehung gleich nach meiner Ankunft in Brüssel aktiv geworden. Denn kaum angekommen hat mich der Zentralverband des Handwerks (ZDH) auf die Neuauflage der Tachographenverordnung angesprochen. Der Verband schlug vor, alle, die nicht mehr als 150 km im Umkreis vom Unternehmensstandort unterwegs sind, von der Tachographenverordnung auszunehmen. Ich war von da an regelmäßig mit dem zuständigen EU-Kommissar Siim Kallas in Kontakt und habe darauf gedrungen, dass das so ins Gesetz kommt. Am Ende kam die Ausnahme, die gerade für Handwerker sowie das regional tätige Baugewerbe wichtig ist, der Umkreis für eine Ausnahme von der Tachographenpflicht war jedoch von 150 auf 100 km reduziert. Ich habe im Verkehrsausschuss versucht, die größere Distanz durchzusetzen, hatte aber keinen Rückhalt des Mitgliedsstaates Deutschland....

... also der Bundesregierung ...

... die haben damals gepennt und das nicht unterstützt, und leider kam von den meisten meiner Kollegen aus der Union auch keine Unterstützung. Und im Ausschuss gab es einige Mitglieder, die gar keine Ausnahme wollten. So blieb es beim 100 km-Radius.

Und was bewegt Sie aktuell im Sinne der Bauwirtschaft?

Die Straßenbauer haben mich gebeten, mich für Ausnahmen von den Lenk- und Ruhezeiten für den Straßenbau einzusetzen. Ich kann ihr Argument, dass heißer Asphalt verbaut werden muss und nicht auf dem LKW kaltwerden darf, nachvollziehen. Das ist ein neues Anliegen der Bauwirtschaft, für das ich mich einsetze. Ich gehöre sicher zu einer Minderheit von Abgeordneten in Brüssel, die Regulierungsvorhaben an den Realitäten messen. Ich war selbst Unternehmerin. Die wenigsten im Parlament waren selbst in der Wirtschaft. Sie wollen mit neuen Regeln die Welt verbessern, aber gutgemeint ist nicht immer gutgemacht.

Dabei wollen doch scheinbar alle in der Politik immer den Mittelstand stärken...

Das fehlt in kaum einer Sonntagsrede. Wenn es aber um konkrete Gesetze geht, dann denken die meisten in der Politik mehr an die Konsumenten oder eher noch an die Belange der großen Industrien, statt auch die Bedürfnisse der mittelständischen Wirtschaft und damit auch viele Bauunternehmen in Blick zu haben. Das ist auf der linken Seite so, betrifft aber auch Teile der CDU/CSU.

Ein Beispiel dafür sind die Eurocodes. Ulrich Kammeyer, Präsident der Bundesingenieurkammer, also selbst vom Fach, beklagt, dass sich die Zahl der Bauvorschriften auf dem Weg von DIN hin zu europäischen Regelungen vervielfacht habe. Wie soll ein Mittelständler mit im Schnitt acht Mitarbeitern mit 500 Seiten starken Regelwerken zum Beispiel für den Stahlbau zurechtkommen?

Das ist nachvollziehbar. Allerdings ist an einmal verabschiedeten Eurocodes nicht zu rütteln. Schaden lässt sich nur im Entstehungsverfahren eines solchen Regelwerks abwenden. Denn in diesem Stadium wird ein Impact Assessment, eine Abschätzung der Auswirkungen, durchgeführt. Hier müssten die Interessenwahrer der Branche hineingrätschen und sich möglicherweise stärker einbringen.

Andere Länder sind im Prozess ihrer Interessenvertretung in Brüssel deutlich professioneller als wir, sagte uns jüngst der Vertreter eines europäischen Branchenverbandes.

Hat er Recht?

Ja, andere Länder und deren Lobbys vertreten ihre Interessen professioneller. Ein Beispiel dafür ist Großbritannien. In jeder Verhandlung haben die britischen Abgeordneten aller Parteien stets ein Dokument in der Hand, das darüber informiert, was die Regierung und die Parteien zuhause wollen. Wir Deutschen haben so etwas nicht! Deutschland und die Bundesregierung sind hier in vielen Fällen nicht so gut aufgestellt wie zum Beispiel Schweden, die Niederlande oder Belgien. Auch die deutschen Bundesländer sind in Brüssel unterschiedlich gut aufgestellt. Viele deutsche Institutionen sind hier zu verschlafen.

Ist Niedersachsen denn in Brüssel gut unterwegs?

Das kommt drauf an, worum es geht. Zum Verkehrsministerium habe ich einen sehr guten Draht. Bei Umwelt ist es deutlich schwieriger.

Und die Verbände?

ZDH und Deutscher Industrie- und Handelskammertag zeigen nach meinem Eindruck in Brüssel viel Engagement und Präsenz.

Wie stehen Sie denn generell zu Lobbyarbeit in Europa?

Ich verteidige das immer ganz vehement. Lobbyisten sind für mich und meine Arbeit unverzichtbar. Lobbyisten sind für mich aber nicht nur die Verbände. Auch Nichtregierungsorganisationen zählen dazu. Auch die niedersächsische Landesvertretung in Brüssel gehört zu den Lobbyisten. Lobbyisten sind für mich alle, die uns ihre spezielle Interessenlage näherbringen wollen. Das ist in seiner Gesamtheit wichtig für meine politische Arbeit, denn nur so kann ich einschätzen, was welche Entscheidung in Brüssel zu Hause in der Praxis bewirkt.

Lassen Sie uns aus Sicht der mittelständischen Bauwirtschaft über ein Thema sprechen, das mittelständische Bauunternehmen besorgt. ÖPP-Projekte werden europaweit ausgeschrieben. Großprojekte machen europäische Konzerne unter sich aus: Wie können wir dafür sorgen, dass unser Mittelstand auch zum Zuge kommen kann?

Eine Möglichkeit sind Größenbeschränkungen bei den Losen. Ihr Verbandspräsident, Herr Staub, hat zum Beispiel beim Autobahnbau ein Längenlimit auf 20 km vorgeschlagen. 20 km-Abschnitte beim Bundesautobahnbau halte ich für einen guten Ansatz, damit kleinere Anbieter aus dem baugewerblichen Mittelstand bei ÖPP-Projekten nicht ausgegrenzt werden. Kleinere deutsche Unternehmen – viele von ihnen sind Ausbildungsbetriebe – müssen sich an europäischen Ausschreibungen beteiligen können.

Die EU-Kommission hat bestritten, den deutschen Meisterbrief abschaffen zu wollen. Würde sie ihn in Deutschland auch in gefahrgeneigten Gewerken zu einer Kann-Bestimmung machen, käme dies allerdings einer Abschaffung gleich? Wie tickt die Kommission beim Meisterbrief wirklich?

Es gibt das Versprechen der Kommission, dass sie das deutsche Meistersystem nicht anrührt. Das heißt nicht, dass man sich hundertprozentig darauf verlassen darf. Ich selbst habe die Kommission bereits zwei Mal danach gefragt. Die Antwort war jeweils: „Wir wissen, dass es diese Gerüchte in Deutschland gibt, da ist aber nichts dran!" Ich glaube nicht, dass das deutsche Meistersystem in Gefahr ist, auch wenn mein bayerischer Kollege Markus Ferber meint, dass die Kuh in Brüssel noch nicht vom Eis sei.

Wie stehen Sie persönlich denn dazu?

Das deutsche Meistersystem und die damit untrennbar verbundene duale Ausbildung sind ein Erfolgsmodell und müssen so weiterbestehen, auch wenn andere Länder in der EU dem skeptisch gegenüberstehen. Die Skepsis beruht teilweise auch auf der Befürchtung, dass deutsche Konzepte zu einflussreich sein könnten. Einige kopieren das duale System aber auch. Es ist in der EU bekannt, dass wir mit dem dualen Modell eine passgenaue Ausbildung haben und dass diese auch zur in Deutschland niedrigen Jugendarbeitslosigkeit beiträgt.

Manche in Europa halten unser Meistersystem für wettbewerbsverzerrend...

Absolute Wettbewerbsgleichheit in Europa ist eine Idealvorstellung. Der richtige Weg für Europa ist aus meiner Sicht, dass sich alle nationalen Volkswirtschaften ungehindert messen können sollen, dabei aber unterschiedliche Wege gehen können, die ihren nationalen Traditionen entsprechen. In Deutschland gehören das Meistersystem und die duale Ausbildung untrennbar zum Handwerk. Das passt gut zum europäischen Motto „Einheit in Vielfalt".

Sie sind in Europa für Umweltfragen zuständig. Gerade kleinere Unternehmen mit geringerer Investitionsfähigkeit sorgen sich, dass sie ältere Baugeräte ohne Partikelfilter bald nicht mehr einsetzen dürfen. Ist Brüssel hier der Treiber, oder wollen wir in Deutschland wieder einmal die Musterschüler Europas sein?

Brüssel ist in diesem Fall nicht der Treiber! Eher wollen einige in Deutschland hier die Musterschüler sein. Hannover und andere haben Plakettenzonen eingerichtet. Grundsätzlich meine ich, dass Maschinen und Autos sauberer werden sollten. Aber man muss auf dem Weg zu diesem wichtigen Ziel Augenmaß haben, was die Möglichkeiten der Umsetzung angeht. Mittelständler haben nicht die investiven Möglichkeiten von Konzernen. Wir brauchen sicher angemessene Übergangsfristen.

Bundesländer wie Bremen und Berlin haben Baumaschinen ohne Partikelfilter bereits verboten...

Auch hier müssen sich die Verantwortlichen ihre Hymnen auf den unternehmerischen Mittelstand vorhalten lassen. Wenn Politik sich verbal für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) stark macht, muss sie diesen Worten auch Taten folgen lassen. Dazu gehören angemessene Übergangsfristen auch für den Einsatz von Baugeräten ohne Partikelfilter.

EU-Gebäuderichtlinie, die das Bauen verteuert, europäische Ausschreibungen, Meister-Debatte: All das sind Themen, die KMU aus dem Baugewerbe ärgern beziehungsweise besorgen. Frage an Sie: Was habe ich denn als kleiner oder mittlerer Bauunternehmer von der EU?

Zum Beispiel profitieren Sie von der Mobilität für Menschen, Waren und Dienstleistungen in Europa. Sie können Aufträge in Nachbarstaaten bei Ausschreibungen gewinnen und als Unternehmer europaweit tätig werden. Wir alle profitieren vom europäischen Binnenmarkt und europaweiten Verkehrsnetzen. Auf Anregung meiner liberalen Fraktion ist mit COSME ein EU-Förderprogramm speziell für KMU aufgelegt worden. Und: Nicht immer kommt Bürokratie aus Europa. Ich bin allerdings lange nicht mehr auf baupolitische Themen angesprochen worden und rufe alle in Deutschland auf, sich stärker in den Brüsseler Diskussionsprozess einzubringen. Ich freue mich über jede kritische Anmerkung, die ich in die Entscheidungsprozesse der EU hineintragen kann.

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