Heinrich Alt: Duale Ausbildung und Meistersystem sind bester Schutz vor Jugendarbeitslosigkeit
Presse 2015 Heinrich Alt: Duale Ausbildung und Meistersystem sind bester Schutz vor Jugendarbeitslosigkeit
Heinrich Alt ist seit dem 26. April 2002 Mitglied im Vorstand der Bundesagentur für Arbeit (BA). Im Interview mit dem Baugewerbe-Verband Niedersachsen (BVN) spricht er über die Handwerksausbildung.
Herr Alt, Sie treten dafür ein, dass das Handwerk sich auch um die schwächeren Schulabgänger kümmert und diese in eine Ausbildung übernimmt. Braucht das Handwerk als Säule des Mittelstands nicht auch und vor allem starke Schulabgänger?
Mir geht es hier nicht um eine Teilung nach dem Motto: „Die Schwachen gehen ins Handwerk und die Stärkeren gehen in die Hochschule.“ Wir brauchen eine gute Mischung: den praktisch veranlagten Hauptschüler mit der Perspektive später eine gute Fachkraft zu sein, und den starken, auch theoretisch gut beschlagenen Absolventen, der in Zukunft einen Betrieb übernehmen oder als Meister beziehungsweise Techniker Projektteams führen kann. Ich glaube: Das Handwerk ist so breit aufgestellt, dass man jedem Schulabgänger ein gutes Angebot machen kann.
Kann man denn dabei außer Acht lassen, dass zum Beispiel Baugewerbe-Betriebe Gewinne erwirtschaften müssen? Wenn man Ihnen folgt, sollen sie aber in schwächere Schulabsolventen investieren...
Sie können dabei auf Unterstützung bauen. Denn wir, die BA, haben im Ausbildungspakt jetzt zwei Themen sehr gut geregelt: Wir können ausbildungsbegleitende Hilfen wesentlich flexibler anwenden. Und wir können durch assistierte Ausbildung begleitend helfen.
Gerade im Baugewerbe werden von Anfang an recht hohe Vergütungen gezahlt. Schwächere Schulabgänger erbringen jedoch einen geringeren Wertschöpfungsanteil als stärkere Absolventen. Wie kommen wir aus diesem Dilemma heraus? Kann man Betriebe, die einen solchen Schüler übernehmen, auch finanziell unterstützen?
Fürs Handwerk allgemein sehe ich da derzeit keine Möglichkeit. Die Ausbildungsvergütung muss hier vom Betrieb aufgebracht werden. Am Bau sehe ich das relativ entspannt, denn hier wird ja mit einem Umlagesystem gearbeitet. Wer ausbildet, bekommt Mittel aus diesem Topf. Das ist eine intelligente Regelung, die auch in anderen Gewerken Schule machen könnte.
Finanziell attraktiv ist auch die von der BA finanzierte Einstiegsqualifizierung. Hier können sich Betrieb und Jugendliche in der Regel ein halbes Jahr lang im Rahmen eines Praktikums gegenseitig kennenlernen.
Wie können wir denn mehr stärkere Schulabsolventen für das Handwerk gewinnen?
Wir müssen die Ausbildung insgesamt für jüngere Leute wieder attraktiver machen. Dies geschieht derzeit über intelligente Werbekampagnen, die das Handwerk durchführt. Wir müssen Jugendliche zudem mit den Produkten von Handwerk in Verbindung bringen. Und wir müssen Eltern und Lehrer gewinnen, den Stellenwert von Handwerk wieder stärker zur Kenntnis zu nehmen. Denn sie sind noch vor den Beratern der BA die wichtigsten Ratgeber bei der Berufswahl.
Und was spricht aus Sicht der BA für eine duale Ausbildung?
Die Karriere-Möglichkeiten im Handwerk sind aus meiner Sicht sehr attraktiv. Es gibt auch sehr gute Einkommensmöglichkeiten. Ich appelliere an Eltern und Lehrer, diese stärker wahrzunehmen. Das Studium und im Anschluss zum Beispiel ein Job in der IT-Branche sind längst nicht in jedem Fall die beste Optionen. Es geht um die Frage, wo ein Jugendlicher mit seinen Talenten am besten hinpasst. Handwerk und BA müssen hier gemeinsam darauf hinwirken, dass die jungen Leute den richtigen Weg finden.
Müssen nicht auch die Schulen mehr tun? Niedersachsens Kultusministerin Frauke Heiligenstadt hat im Interview mit DIE BAUSTELLE Ausgabe Nummer 2 Februar 2015 mehr Berufsorientierung auch an weiterführenden Schulen gefordert und die Wirtschaft zugleich aufgefordert, aktiver in die Schulen zu gehen. Gibt es da aus Ihrer Sicht Defizite?
Ja, ich glaube auch, dass es da Defizite gibt. Wir müssen mit der Berufswahl so früh wie möglich anfangen. Bereits jetzt bieten Handwerkskammern Praktika an, damit junge Leute sich frühzeitig in den Ausbildungseinrichtungen der Handwerkskammern mit bestimmten Gewerken auseinandersetzen können. Es ist auch gut, wenn Handwerker in die Schule kommen. Doch nicht nur die Wirtschaft sollte Schülern und Schulen Angebote machen. Ich meine vielmehr, dass vor allem Schule stärker in die Wirtschaft gehen muss.
Und wie kann das aussehen?
Schulen sollten Elternabende in Handwerksbetrieben und nicht nur in der Schule veranstalten, damit Eltern als wichtige Einflussgruppe für die Jugendlichen erfahren können, was Handwerk heute zu bieten hat.
Niedersachsens Baugewerbe steht bei den Bewerberzahlen vergleichsweise gut da. Als einen Grund dafür sieht man den schulischen Einstieg über das Ausbildungsgrundschuljahr. Sollte dieses System auch in anderen Bereichen Schule machen?
Es macht sicher auch in anderen Regionen Sinn, so etwas anzubieten. Wir dürfen aber nicht von der Generalrichtung abweichen. Diese heißt für mich: Ausbildung muss so früh wie möglich beginnen. Denn wir starten in Deutschland zu spät damit – bei Menschen ohne Hochschulzugangsberechtigung im Schnitt erst mit rund 20 Jahren. In Österreich steigen Azubis im Schnitt vier Jahre früher ein. Der Grund: Wir haben in Zeiten geburtenstarker Jahrgänge ein großes Übergangssystem aufgebaut, um Jugendliche wenigstens zu beschäftigen. Dieses System hat heute keinen Sinn mehr! Es hat sogar kontraproduktive Wirkungen.
Warum ist das so?
Es kann dazu führen, dass junge Menschen nach verschiedenen Warteschleifen sagen: „Jetzt bin ich zu alt für eine Ausbildung“. Wir sollten dieses Warteschleifen-System deshalb abbauen. Stattdessen sollten wir Jugendliche möglichst schnell in Ausbildung bringen und sie unterstützen, wenn es schwierig ist oder wird.
Baugewerbebetriebe klagen über Defizite der Schulabgänger zum Beispiel in mathematischen Grundfertigkeiten. Weitere Probleme sind Schlüsselqualifikationen wie Pünktlichkeit und Leistungsbereitschaft. Wie kann man aus Ihrer Sicht hier Verbesserungen erreichen?
Wir können uns zwar etwas anderes wünschen, aber wir müssen – wie man im Rheinland sagt – mit den Mädchen tanzen, die bei der Musik sind. Psychologen, die die BA beschäftigt, bestätigen zwar, dass es Unterschiede zwischen früheren Generationen und der heutigen gibt. Diese Fachleute meinen aber auch, dass die jungen Leute heute nicht schlechter, sondern einfach anders sind. Ein Beispiel aus der alten und der neuen Welt: Der Betriebsleiter geht eine Gebrauchsanleitung suchen, der Jugendliche hat sie auf seinem Smartphone schon gefunden. Ausbildungsmethoden müssen sich anpassen. Wer diese jungen Leute zu Beginn einer Ausbildung wochenlang mit immer wiederkehrenden Übungen beschäftigt, wird Probleme mit ihrer Leistungsbereitschaft bekommen. Wer mit ihnen aber gleich Projektarbeit macht, wird feststellen, dass sie sehr engagiert sind. Ausbildungsinhalte, Ausbilder und Betriebe müssen sich auf die heutige Generation einstellen. Wir haben keine andere. Wer das tut, kann mit diesen Jugendlichen nach meiner Erfahrung auch heute ein sehr gutes Ergebnis erzielen.
Professor Klaus Hurrelmann, Leitungsteam der Shell-Jugendstudie, empfiehlt dem Handwerk, auf der Suche nach starken Schulabsolventen deutlicher als bisher die Offenheit der dualen Ausbildung zur Hochschule herauszustellen. Ihm geht es darum, dass die Jugend die Option sieht, gegebenenfalls doch noch zu studieren.
Diese Empfehlung unterschreibe ich voll und ganz. Und zwar auch mit Blick auf die Eltern. Viele von ihnen meinen, dass ein Mensch erst mit dem Abitur beginnt. Ein Ausweg ist hier ein mit der dualen Ausbildung kombiniertes Praktiker-Abitur. Es würde auch der dualen Ausbildung zu einem höheren Status verhelfen.
Meinen Sie damit das Abitur Plus nach Österreicher Vorbild, das Hans Peter Wollseifer, Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, jüngst in die Diskussion gebracht hat? Schüler können dort ihre Matura und ihre Berufsausbildung gleichzeitig absolvieren...
Diesen Vorschlag von Herrn Wollseifer, auch in Deutschland ein duales Abitur einzuführen, begrüße ich. Vor allem die wichtige Einfluss-Zielgruppe „Eltern“ wäre dann beruhigt, wenn ihre Kinder eine duale Ausbildung antreten. Denn sie wissen dann ja, dass damit auch die Option des Hochschulzugangs gewährleistet ist.
Handwerksbetriebe könnten fürchten, dass die gerade aufwändig dual ausgebildeten jungen Leute sofort wieder weg sind...
Ich glaube, dass die meisten dieser jungen Leute am Ende doch eine Techniker- oder Meister-Karriere anstreben und den Betrieben damit verbunden bleiben, statt an die Hochschule oder Fachhochschule zu gehen. Die Option ist entscheidend!
Im Übrigen: Akademiker zu werden, ist nicht per se gut. Wir haben auch 60.000 Akademiker in der Grundsicherung. Viele darunter werden sicher nicht eignungsorientiert studiert haben. Und wir haben auf der anderen Seite erfolgreiche Handwerker, die über das Einkommen eines Studienrates nur müde lächeln. Aufstiegsmöglichkeiten, Angebotsbreite, Verdienstmöglichkeiten: Das Handwerk hat hier gerade in den vergangenen Jahren sehr viel Boden gutgemacht. Auch das Risiko von Arbeitslosigkeit unterscheidet sich zwischen dual Ausgebildeten und Akademikern kaum. Mein Fazit: Beim Einkommen kann man die Eltern beruhigen. Beim Status handwerklicher Ausbildung und auch bei den Aufstiegsoptionen kann man noch etwas tun – zum Beispiel durch das duale Abitur.
Das Meistersystem wird vor allem in Europa immer wieder infrage gestellt. Was sagen Sie dazu unter Aspekten der Ausbildung?
Man hat in einigen Gewerken wie dem Fliesenlegerhandwerk ja bereits Öffnungen beschlossen und Gesellen erlaubt, eigene Betriebe zu führen. Nach meiner Beobachtung war das in Bezug auf die Ausbildung nicht erfolgreich. Ich meine, dass erfolgreiche Traditionen einzelner Länder, und dazu zählt ganz sicher das deutsche Meistersystem, auch in Europa Bestand haben und EU-weit geschützt werden sollten. Deutschland steht auch wegen des von Meistern getragenen Handwerks wirtschaftlich so gut da! Denn dadurch sind Industrie und Dienstleistung von einer hoch professionellen Handwerksszene umgeben. Wenn ich in Frankreich und Großbritannien – ganz zu schweigen von Bulgarien, Rumänien oder anderen Ländern – sehe, wie dort Wasser, Abwasser, Strom und das Bauen behandelt wird, dann lernt man deutsche Handwerksqualität erst wirklich schätzen. Sie ist eine tragende Säule für andere Wirtschaftsbereiche in Deutschland. Man darf das an Meister gebundene System hierzulande nicht kaputtmachen, sondern sollte lieber andere davon überzeugen, es einzuführen.
Die duale Ausbildung leistet in Deutschland zudem einen entscheidenden Beitrag dazu, dass wir bei der Jugendarbeitslosigkeit weit besser dastehen als andere europäische Länder. Wir haben auch so gut wie keine strukturelle Arbeitslosigkeit bei jungen Leuten. Daher bekenne ich mich klar zum Meistersystem und zur dualen Ausbildung als zentralem Werkzeug gegen Jugendarbeitslosigkeit.
Studienabbrecher: Wie kann das Handwerk dieses Potenzial heben?
Hier liegen große Chancen für die Ausbildung. Und das Handwerk ist gegenüber dieser Bewerbergruppe durchaus positiv eingestellt. Doch das ist nur ein Teil des tatsächlich zur Verfügung stehenden Personenkreises: Wir haben an den Universitäten auch Tausende, für die die Hochschule nur noch Wärmestube ist und die eingeschrieben bleiben – wegen der Krankenkasse oder des Nahverkehrs.
Immer wieder hört man Klagen, die BA schicke Bewerber in die Unternehmen, die wenig motiviert beziehungsweise weniger geeignet sind. Wie stellen Sie sich zu diesem Vorwurf?
Ich bevorzuge es auch, wenn Arbeitssuchende sich eigeninitiativ bei Betrieben bewerben und nicht von uns geschickt werden müssen. Denn wer geschickt wird, hat immer den Makel dessen, dem man Beine machen muss. Deshalb arbeiten wir mit den Menschen, damit diese zur Arbeit und zu eigener Arbeitssuche motiviert werden. Mir ist bewusst, dass es den Unternehmen hohe Kosten verursacht, wenn sie jemanden einstellen und einarbeiten und das Arbeitsverhältnis dann nach kurzer Zeit scheitert. Wir wollen überzeugen durch gute Dienstleistung und nicht durch demotivierte Bewerber. Wir haben ganz sicher nicht immer die Bestenauslese in der Arbeitsvermittlung. Aber wir bemühen uns, diese wieder von Arbeit zu begeistern, ihnen die Idee zu geben, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Ich kann aber das, was Sie schildern, im Einzelfall natürlich nicht ausschließen.
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